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ihre Möglichkeiten visueller Wahrneh- Dies ist auch nach den ersten Praxiser- geben andererseits ihrer Individualität
mung, ihre soziale Kognition und ihre fahrungen mit dem Expertenstandard eine Bedeutung. Pflegerische Heraus-
Biografie. Dabei geht es um die Neu- sichtbar (DNQP 2019c). Bestehende forderung ist, sich an die Möglichkeiten
gierde auf die Person, um Wertschät- Strukturen, Vorerfahrungen und Rah- und Bedürfnisse des Menschen mit
zung, einen Perspektivenwechsel und menbedingungen haben erheblichen Demenz anzupassen und Schwankun-
damit den Versuch, die Welt aus Sicht Einfluss darauf, wie umfassend die In- gen im Demenzerleben der Person zu
des Menschen mit Demenz zu betrach- halte des Expertenstandards angewen- berücksichtigen. Letztendlich bedeutet
ten. Werden die gewonnenen Informa- det werden können. Entscheidend er- dies, dass eine„Pflege wie immer“
tionen zusammengetragen und mitein- scheint zunächst, ob er in einem bereits seltener möglich und eine„Pflege wie
ander verbunden, kann ein Verstehen auf die Pflege von Menschen mit De- es geht“ zur Normalität wird. Für Akut-
des Menschen mit Demenz beginnen. menz spezialisierten Bereich umgesetzt krankenhäuser stehen dabei zunächst
wird und welche Vorerfahrungen beste- Orientierungshilfen, Angstminderung
Dies bildet die Grundlage für pflege- hen. Einrichtungen, in denen bereits und Vertrauensaufbau im Vordergrund,
fachliche Angebote zur Beziehungsge- person-zentrierte Konzepte als Grund- die vor allem durch eine kontinuierliche
staltung und ermöglicht es den Pfle- lage für die Pflege von Menschen mit Begleitung der Menschen mit Demenz
genden darüber hinaus, beziehungs- Demenz dienen, können diese bei Be- erreicht werden können. In der Lang-
gestaltende Aspekte in jegliches Pfle- darf um die Inhalte des Expertenstan- zeitpflege sind beziehungsfördernde
gehandeln zu integrieren. Das Pflege- dards erweitern und erleben dann ver- und -gestaltende Angebote im Zusam-
handeln kann auf diese Weise Unter- gleichsweise wenige Hürden zum menhang mit den pflegerischen
stützungsbedarfe in der Beziehungs- Erreichen des angestrebten Qualitätsni- Kernaufgaben von Bedeutung und
gestaltung des Menschen mit Demenz veaus. Demgegenüber stehen Einrich- sollten gezielt im Rahmen täglicher
ebenso berücksichtigen, wie mögliche tungen, deren Pflegehandeln vermehrt Aktivitäten eingesetzt werden.
Schwankungen von Fähigkeiten und verrichtungsorientiert und funktional In beiden Fällen ist die Beziehungsge-
Bedürfnissen im Tages- und Demenz- ausgerichtet ist vor der Herausforde- staltung keine isolierte Pflegever-
verlauf. Schwerpunkte beziehungsför- rung, das Pflegeverständnis und die richtung, sondern sollte im Sinne der
dernder Angebote und Maßnahmen Pflegeorganisationsform mit den Inhal- person-zentrierten Pflege Grundlage
sind Lebensweltorientierung, Wahrneh- ten des Expertenstandards in Einklang und Bestandteil jeglichen Pflegehan-
mungsförderung sowie Wertschätzung zu bringen und sie müssen bei seiner delns sein, also beispielsweise ebenso
und Zuwendung. Die Evaluation von Umsetzung deutlich grundständiger bei der Körperpflege, bei Toiletten-
Maßnahmen findet dabei vornehmlich beginnen. gängen oder bei Verbandswechseln,
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in dialogischen Prozessen innerhalb der wie auch im Rahmen von tagesstruktu-
Pflegeteams statt. So werden insbeson- Besonders in Einrichtungen mit stärker rierenden Beschäftigungsangeboten.
dere Fallbesprechungen und die Reflek- ausgeprägter Verrichtungsorientierung
tion von Interaktionen zwischen Pfle- und starreren organisatorischen Struk- Die Förderung einer person-zentrierten
genden und Menschen mit Demenz als turen beeinflussen oftmals die Rah- Haltung zeigt sich allerdings als
zentrale Methoden empfohlen, um zu menbedingungen den Stellenwert be- größere Herausforderung, die aber
fachlichen Einschätzungen zu gelan- ziehungsfördernder und -gestaltender durch ein Zusammenspiel unterschied-
gen. Ziel der Evaluation ist, den Einfluss Pflege von Menschen mit Demenz. licher Aspekte gemeistert werden kann.
von beziehungsgestaltenden Maßnah- Eine Rolle spielen hierbei Ansprüche an Hierzu gehören die Wissens- und
men auf Stimmung und Affekt, Bezie- einen gelingenden Stations- oder Kompetenzsteigerung der Pflegenden
hung und Interaktion, Betätigung und Wohnbereichsablauf, fehlende Bereit- und vor allem einrichtungsseitig
Eingebunden-Sein sowie auf das Ge- schaft zur Veränderung von geplanten gewährte organisatorische und struktu-
fühl von Sicherheit und Geborgenheit Pflegemaßnahmen oder von Tages- relle Rahmenbedingungen. Erhebli-
der Menschen mit Demenz einschätzen strukturen und, vor allem in den Kran- chen Einfluss auf die Haltungsbildung
zu können und die pflegerischen Maß- kenhäusern, die Dominanz notwendi- haben person-zentrierte Konzepte, al-
nahmen darauf auszurichten. ger Schwerpunktaufgaben in lerdings nur unter der Voraussetzung,
Diagnostik und Therapie. Andererseits dass sie in den Einrichtungen mit Leben
Herausforderungen bei zeigt der Expertenstandard die Mög- gefüllt sind und nicht ausschließlich
der Umsetzung lichkeiten auf, eine gelingende Pflege aus formalen Gründen entwickelt
von Menschen mit Demenz zu gestal- wurden. Eine dauerhafte Umsetzung
Waren es in der Vergangenheit eher ten. Als Beispiele hierfür können die der Expertenstandardinhalte ist abhän-
die Ausgestaltungen einzelner Pflege- individuelle, biografiegeleitete und gig von der Lebendigkeit solcher Kon-
prozessschritte, beispielsweise das beziehungsfördernde Gestaltung zepte in den Einrichtungen.
Vorgehen zur Schmerzeinschätzung des Alltags und eine angemessene Diese Lebendigkeit kann durch regel-
oder die Auswahl geeigneter Maßnah- Milieugestaltung des Umfelds genannt mäßige Fort- und Weiterbildungen,
men der Kontinenzförderung, die werden. Während die Milieugestaltung die Etablierung unterschiedlicher
nach der Neuentwicklung eines dabei eine türöffnende Funktion für Qualifikationsniveaus in den Pflege-
Expertenstandards als Herausforder- die Interaktion und Kommunikation teams, die Klärung der Rollen der
ungen bei seiner Umsetzung ange- einnimmt, bieten die Biografieorientie- Pflegenden und ihres Beitrags an
sehen wurden, liegen sie bei diesem rung und die beziehungsfördernde der Versorgung von Menschen mit
Expertenstandard eher auf den struktu- Alltagsgestaltung den Menschen Demenz, der Stärkung der interdiszipli-
rellen Voraussetzungen. mit Demenz einerseits Sicherheit und nären Zusammenarbeit und durch
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