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Herausforderungen in der Kindheit. sphäre und eine Veränderung der Person schwach ist. Traumasymptome
Die Entwicklungspsychologin Nicole Einrichtungsstruktur, z.B. mittels werden autonom vom Stoffwechsel
Strüber befasste sich mit den Prägun- Sicherung der Arbeitsfähigkeit, Einbe- ausgelöst und können durch entspre-
gen der frühen Kindheit, die dafür ziehung anderer Professionen oder chendes Training verarbeitet werden.
verantwortlich sind, wie Belastungen flexiblen Gestaltung von Konzepten. Ein Trauma überfällt meist einen Men-
von der einzelnen Person bewertet 3. Persönliche Denkmuster und Stress- schen oder es handelt sich um heftige
werden (vgl. Strüber, N., 2019). verstärker: Hier ist die Rede von selekti- Ereignisse, vor denen der Mensch nicht
ver Wahrnehmung von negativen fliehen kann und die sich wiederholen.
Stressverstärker Ereignissen, das selektive Verallgemei- Hiermit ist die traumatische Zange
Zudem spielen sogenannte Stressver- nern von negativen Erlebnissen, Katas- gemeint (vgl. Sautter Christiane, 2016).
stärker eine entscheidende Rolle. trophieren (Folgen neg. Erlebnisse Es werden folgende Traumatypen
Diese Stressverstärker hängen von den werden überbewertet), Personalisieren (vgl. Hanswille R./Kissenbeck A., 2022)
Erwartungen der einzelnen Personen (alles auf sich beziehen) und „Muss“- unterschieden:
ab. Man unterscheidet in normative Denken (Übersteigerung der Wünsche • Traumatyp I: einmalig und unerwar-
und kognitive Erwartungen (vgl. Röhl/ zu absoluten Forderungen) (vgl. Koritt- tetes Ereignis, z.B. Tod, Autounfall,
Klaus F., 2023). ko A., 2010/Pleyer K.H., 2014) benen- Flugzeugunglück, Terroranschlag,
Normative Erwartungen sind nicht nen vertikale und horizontale Stresso- medizinischer Eingriff, z.B. verfrühtes
verhandelbar! Es spielt dabei keine Rol- ren. Vertikale Stressoren sind familiäre Aufwachen aus der Narkose, Natur-
le, ob die Norm von einer Gruppe oder Verhaltensmuster, Mythen und Ge- katastrophen, Trennung.
vom Einzelnen allein festgelegt wird. heimnisse, Regeln und Loyalitäten, die • Traumatyp II: Situationen, die längere
Normative Erwartungen sind enttäu- auf den verschiedenen Systemebenen Zeit – unter Umständen jahrzehnte-
schungsfest. Werden sie nicht erfüllt, des Individuums und der Kernfamilie, lang – andauern und aus denen es
erhöht sich das Konflikt- und Stresspo- der erweiterten Familie, des sozialen kein Entkommen gibt, z.B. sexuelle
tenzial. Kognitive Erwartungen beru- Netzwerkes, der sozialen, politischen, Gewalt, Gewalterfahrungen in der
hen auf Wahrnehmungen, Interpretati- ökonomischen, religiösen sowie kultu- Familie, Gefangenschaft, Vernachläs-
onen und Gefühlen. rellen Kontextes auf das Individuum sigung im Kindesalter, anhaltende
Sie sind verhandelbar und veränderbar. einwirken. Unter horizontalen Stresso- bedrohliche Mobbingsituation, Krieg.
Das Konfliktpotenzial ist daher wesent- ren versteht man unvorhergesehene • Beziehungstrauma: Dieses geschieht
lich geringer als bei normativen Erwar- Ereignisse, strukturelle Veränderungen vor allem in der Kindheit durch die
tungen. Gerd Kaluza (2004) hat folgen- und Entwicklungsimmanentes (Verän- Beziehung zu anderen Menschen.
de 5 Stressverstärker herausgefunden: derung des Lebenszyklus). Hier wiederholen sich die schlimmen
Ereignisse, die in der Kindheit be-
• Sei perfekt, ©FgSKW
• Sei beliebt, Was umfasst den Begriff „Trauma“? gründet und erlebt wurden.
• Sei stark, Fischer, einer der ersten Traumafor- • Indirekte Traumatisierung: Man wird
• Sei auf der Hut, scher auf psychosozialer Ebene, hat Zeuge eines schlimmen Ereignisses.
• Ich kann nicht. eine Definition von „Trauma“ entwi- Dies betrifft vor allem die Berufsgrup-
Je nach Gewichtung des Stressverstär- ckelt, die wie folgt lautet (vgl. Fischer pen Notfallsanitäter:innen, Notfall-
kers von innen, wird der Stress erhöht G./Riedesser P., 2020). Das Trauma ist ärzt:innen, Feuerwehrleute, Polizist:
oder gemindert. ein vitales Diskrepanzerlebnis (zwei innen, Therapeut:innen und Seelsor-
Zusätzlich gelten drei weitere Stress- Dinge passen nicht zusammen) zwi- ge. Aber auch Kinder, die in ihrer
faktoren (vgl. Pfiffigunde, 2023). schen bedrohlichen Situationsfaktoren Familie Gewalt erlebt haben, sind
und den individuellen Bewältigungs- davon betroffen. Diese Art der Trau-
1. Konfrontation mit der eigenen Belas- möglichkeiten, das mit Gefühlen von matisierung kann aber auch nicht
tung und/oder der Kinder/Eltern und Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe immer leicht im Traumakontext er-
der Lebensgeschichte. Hier liegen drei einhergeht und so eine dauerhafte kannt werden, da sie indirekt verläuft
Illusionen vor: Überschätzung der eige- Erschütterung von Selbst- und Weltver- (vgl. Hanswille R./Kissenbeck A.,
nen Fähigkeiten, Überschätzung des ständnis bewirkt. Das Urvertrauen 2022).
Grades an Kontrolle über die Umwelt, gegenüber Menschen ist zerstört, • Durch Schutz- und Resilienzfaktoren
allzu optimistische Einschätzung hin- Menschen, die nahestehen werden als können diese ausgeglichen werden:
sichtlich der eigenen Zukunft. Dies bedrohlich und nicht vertrauenswür- Von Geburt an haben diese Men-
führt zu folgenden Gefühlen: Trauer, dig erlebt. Im Unterschied zu Stress, bei schen Intelligenz und positives
Wut, Ärger, Erregung, Intoleranz, über- dem die Situation selbst beeinflusst Temperament. Sie haben durch die
starke Identifikation, hohe Verantwort- werden kann, ist Trauma ein Zustand, Interaktion mit der Umwelt mindes-
lichkeit, Depression, Intoleranz. in welchem die Fähigkeiten eines tens eine stabile Bezugsperson und
2. Arbeitsbedingungen und Struktu- Menschen, sich und seine Umwelt zu Glauben erworben (vgl. Wustmann S.,
ren: Z.B. die eigene Aufgabe ist unklar, organisieren und zu kontrollieren, 2016).
widersprüchliche Anforderungen, kein überfordert werden (vgl. Pfiffigunde,
Schutz der Privatsphäre, keine Rollen- 2023). Dadurch entsteht ein Selbst- Der Vorgang im Gehirn sieht wie folgt
klarheit, kein kollegialer Austausch, und Weltverständnis, welches erschüt- aus (vgl. Pfiffigunde, 2023): Der Thala- Bild: AdobeStock @ Sheila
Fehlen von Supervision etc. tert wird. Jeder Mensch kann traumati- mus nimmt alle Sinneseindrücke unge-
Hier braucht es Strategien zur Selbst- siert werden. Traumasymptome filtert wahr (wie ein Staubsauger) und
fürsorge, wie den Schutz der Privat- bedeuten nicht, dass die betroffene filtert diese. Er leitet diese weiter an die
12 Nr. 97 · 04/2025 Das Thema