Page 12 - MagSi 97
P. 12

Herausforderungen in der Kindheit.   sphäre und eine Veränderung der   Person schwach ist. Traumasymptome
        Die Entwicklungspsychologin Nicole   Einrichtungsstruktur, z.B. mittels   werden autonom vom Stoffwechsel
        Strüber befasste sich mit den Prägun-  Sicherung der Arbeitsfähigkeit, Einbe-  ausgelöst und können durch entspre-
        gen der frühen Kindheit, die dafür   ziehung anderer Professionen oder   chendes Training verarbeitet werden.
        verantwortlich sind, wie Belastungen   flexiblen Gestaltung von Konzepten.   Ein Trauma überfällt meist einen Men-
        von der einzelnen Person bewertet   3. Persönliche Denkmuster und Stress-  schen oder es handelt sich um heftige
        werden (vgl. Strüber, N., 2019).   verstärker: Hier ist die Rede von selekti-  Ereignisse, vor denen der Mensch nicht
                                          ver Wahrnehmung von negativen      fliehen kann und die sich wiederholen.
        Stressverstärker                  Ereignissen, das selektive Verallgemei-  Hiermit ist die traumatische Zange
        Zudem spielen sogenannte Stressver-  nern von negativen Erlebnissen, Katas-  gemeint (vgl. Sautter Christiane, 2016).
        stärker eine entscheidende Rolle.   trophieren (Folgen neg. Erlebnisse   Es werden folgende Traumatypen
        Diese Stressverstärker hängen von den   werden überbewertet), Personalisieren   (vgl. Hanswille R./Kissenbeck A., 2022)
        Erwartungen der einzelnen Personen   (alles auf sich beziehen) und „Muss“-  unterschieden:
        ab. Man unterscheidet in normative   Denken (Übersteigerung der Wünsche   •  Traumatyp I: einmalig und unerwar-
        und kognitive Erwartungen (vgl. Röhl/  zu absoluten Forderungen) (vgl. Koritt-  tetes Ereignis, z.B. Tod, Autounfall,
        Klaus F., 2023).                  ko A., 2010/Pleyer K.H., 2014) benen-  Flugzeugunglück, Terroranschlag,
        Normative Erwartungen sind nicht   nen vertikale und horizontale Stresso-  medizinischer Eingriff, z.B. verfrühtes
        verhandelbar! Es spielt dabei keine Rol-  ren. Vertikale Stressoren sind familiäre   Aufwachen aus der Narkose, Natur-
        le, ob die Norm von einer Gruppe oder   Verhaltensmuster, Mythen und Ge-  katastrophen, Trennung.
        vom Einzelnen allein festgelegt wird.   heimnisse, Regeln und Loyalitäten, die   •  Traumatyp II: Situationen, die längere
        Normative Erwartungen sind enttäu-  auf den verschiedenen Systemebenen   Zeit – unter Umständen jahrzehnte-
        schungsfest. Werden sie nicht erfüllt,   des Individuums und der Kernfamilie,   lang – andauern und aus denen es
        erhöht sich das Konflikt- und Stresspo-  der erweiterten Familie, des sozialen   kein Entkommen gibt, z.B. sexuelle
        tenzial. Kognitive Erwartungen beru-  Netzwerkes, der sozialen, politischen,   Gewalt, Gewalterfahrungen in der
        hen auf Wahrnehmungen, Interpretati-  ökonomischen, religiösen sowie kultu-  Familie, Gefangenschaft, Vernachläs-
        onen und Gefühlen.                rellen Kontextes auf das Individuum   sigung im Kindesalter, anhaltende
        Sie sind verhandelbar und veränderbar.   einwirken. Unter horizontalen Stresso-  bedrohliche Mobbingsituation, Krieg.
        Das Konfliktpotenzial ist daher wesent-  ren versteht man unvorhergesehene   •  Beziehungstrauma: Dieses geschieht
        lich geringer als bei normativen Erwar-  Ereignisse, strukturelle Veränderungen   vor allem in der Kindheit durch die
        tungen. Gerd Kaluza (2004) hat folgen-  und Entwicklungsimmanentes (Verän-  Beziehung zu anderen Menschen.
        de 5 Stressverstärker herausgefunden:   derung des Lebenszyklus).     Hier wiederholen sich die schlimmen
                                                                              Ereignisse, die in der Kindheit be-
        •   Sei perfekt,             ©FgSKW
        •   Sei beliebt,                  Was umfasst den Begriff „Trauma“?   gründet und erlebt wurden.
        •   Sei stark,                    Fischer, einer der ersten Traumafor-  •  Indirekte Traumatisierung: Man wird
        •   Sei auf der Hut,              scher auf psychosozialer Ebene, hat   Zeuge eines schlimmen Ereignisses.
        •   Ich kann nicht.               eine Definition von „Trauma“ entwi-  Dies betrifft vor allem die Berufsgrup-
        Je nach Gewichtung des Stressverstär-  ckelt, die wie folgt lautet (vgl. Fischer   pen Notfallsanitäter:innen, Notfall-
        kers von innen, wird der Stress erhöht   G./Riedesser P., 2020). Das Trauma ist   ärzt:innen, Feuerwehrleute, Polizist:
        oder gemindert.                   ein vitales Diskrepanzerlebnis (zwei   innen, Therapeut:innen und Seelsor-
        Zusätzlich gelten drei weitere Stress-  Dinge passen nicht zusammen) zwi-  ge. Aber auch Kinder, die in ihrer
        faktoren (vgl. Pfiffigunde, 2023).  schen bedrohlichen Situationsfaktoren   Familie Gewalt erlebt haben, sind
                                          und den individuellen Bewältigungs-  davon betroffen. Diese Art der Trau-
        1. Konfrontation mit der eigenen Belas-  möglichkeiten, das mit Gefühlen von   matisierung kann aber auch nicht
        tung und/oder der Kinder/Eltern und   Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe   immer leicht im Traumakontext er-
        der Lebensgeschichte. Hier liegen drei   einhergeht und so eine dauerhafte   kannt werden, da sie indirekt verläuft
        Illusionen vor: Überschätzung der eige-  Erschütterung von Selbst- und Weltver-  (vgl. Hanswille R./Kissenbeck A.,
        nen Fähigkeiten, Überschätzung des   ständnis bewirkt. Das Urvertrauen   2022).
        Grades an Kontrolle über die Umwelt,   gegenüber Menschen ist zerstört,   •  Durch Schutz- und Resilienzfaktoren
        allzu optimistische Einschätzung hin-  Menschen, die nahestehen werden als   können diese ausgeglichen werden:
        sichtlich der eigenen Zukunft. Dies   bedrohlich und nicht vertrauenswür-  Von Geburt an haben diese Men-
        führt zu folgenden Gefühlen: Trauer,   dig erlebt. Im Unterschied zu Stress, bei   schen Intelligenz und positives
        Wut, Ärger, Erregung, Intoleranz, über-  dem die Situation selbst beeinflusst   Temperament. Sie haben durch die
        starke Identifikation, hohe Verantwort-  werden kann, ist Trauma ein Zustand,   Interaktion mit der Umwelt mindes-
        lichkeit, Depression, Intoleranz.   in welchem die Fähigkeiten eines   tens eine stabile Bezugsperson und
        2. Arbeitsbedingungen und Struktu-  Menschen, sich und seine Umwelt zu   Glauben erworben (vgl. Wustmann S.,
        ren: Z.B. die eigene Aufgabe ist unklar,   organisieren und zu kontrollieren,   2016).
        widersprüchliche Anforderungen, kein   überfordert werden (vgl. Pfiffigunde,
        Schutz der Privatsphäre, keine Rollen-  2023). Dadurch entsteht ein Selbst-   Der Vorgang im Gehirn sieht wie folgt
        klarheit, kein kollegialer Austausch,   und Weltverständnis, welches erschüt-  aus (vgl. Pfiffigunde, 2023): Der Thala-  Bild: AdobeStock @ Sheila
        Fehlen von Supervision etc.       tert wird. Jeder Mensch kann traumati-  mus nimmt alle Sinneseindrücke unge-
        Hier braucht es Strategien zur Selbst-  siert werden. Traumasymptome   filtert wahr (wie ein Staubsauger) und
        fürsorge, wie den Schutz der Privat-  bedeuten nicht, dass die betroffene   filtert diese. Er leitet diese weiter an die


     12                 Nr. 97 · 04/2025                                                             Das Thema
   7   8   9   10   11   12   13   14   15   16   17